Menschliche Nähe ist an sich eine feine Sache. Doch eine neue Studie zeigt, dass sie auch Gefahren birgt. Wenn wir uns jemandem verbunden fühlen, neigen wir dazu, dessen Fehltritte zu rechtfertigen – und uns selber daneben zu benehmen.
Es ist leicht, mit dem Finger auf andere Menschen zu zeigen. Auf jene, die gefallen sind, die der Gier, dem Neid oder den Verlockungen der Macht erlegen sind; jene, die sich haben schmieren und korrumpieren lassen oder ihrem Narzissmus erlegen sind. „So was macht man nicht“, lautet dann der Tenor, oder auch „Wie kann man nur?“
Ja, wie bloß? Warum werfen einige von uns irgendwann Moral und Gewissen über Bord und fallen Versuchungen anheim? Wie gerät man auf die schiefe Bahn?
Mit dieser Frage beschäftigt sich die amerikanische Professorin Francesca Gino von der Harvard Business School schon seit einigen Jahren. In einer Studie, die demnächst im Fachmagazin „Organizational Behavior and Human Decision Processes“ erscheint, hat sie eine Antwort gefunden – und die klingt mindestens verblüffend, wenn nicht gar verstörend.
„Wer sich jemandem verbunden fühlt, neigt eher dazu, dessen Fehltritte rechtzufertigen“, schreibt Gino, „und benimmt sich selbst mit höherer Wahrscheinlichkeit daneben.“ Offenbar macht uns menschliche Nähe schnell zu Marionetten – und die entsteht bereits durch vermeintliche Kleinigkeiten, wie Gino in ihren Experimenten bemerkte.
In einem Versuch lasen 126 Testpersonen eine Kurzgeschichte, in der das egoistische Verhalten eines Studenten beschrieben wurde. Der hatte in einem Experiment 50 US-Dollar erhalten, die er mit einem Spielpartner teilen konnte. Allerdings hatte er sich dazu entschieden, das gesamte Geld einzustecken. Die eine Hälfte der Probanden sollte sich nun gedanklich in die Lage des Studenten hineinversetzen und seine Gedanken und Gefühle nachempfinden (Gruppe A). Die andere Hälfte sollte das Verhalten objektiv beurteilen (Gruppe B).
Im Anschluss wurden die Probanden gefragt, wie sie sich in dieser Situation verhalten hätten. Und siehe da: Wer sich in den egoistischen Studenten hineinversetzt hatte, neigte dazu, sich tendenziell genauso zu benehmen. Gruppe A überließ dem Spielpartner nur etwa 16 Dollar und steckte den Rest ein. Gruppe B gönnte dem anderen immerhin 24 Dollar, also fast die Hälfte. Offenbar sorgte die gedankliche Nähe zum Egoisten dafür, sich mit seinem Verhalten zu identifizieren – und es ihm nachzumachen.
Fatale Nähe
Dieselben Nachahmer-Effekte fand Gino in weiteren Experimenten. Bei einem sollten die Probanden mit einem Spielpartner verschiedene Rätsel lösen. Der Hälfte der Freiwilligen gaukelte Gino vor, dass sie und ihr Partner im selben Monat Geburtstag und im selben Jahr ihren Schulabschluss gemacht hätten.
Nun ging es an das Rätsel. Doch schon nach einer Minute stand der Komplize auf und behauptete, alle Aufgaben gelöst zu haben – angesichts der Schwierigkeit der Tests eine offensichtliche Lüge. Nach Ablauf der Zeit sollten die Probanden angeben, wie viele Aufgaben sie korrekt gelöst hatten. Und siehe da: Wenn sie davon ausgingen, mit dem Spielpartner Gemeinsamkeiten zu haben, ahmten sie dessen Verhalten nach. 65 Prozent der Gruppe übertrieben die Anzahl richtiger Lösungen. Die Kontrollgruppe betuppte nur zu 29 Prozent.
Schon seltsam: Eigentlich wollen wir ehrlich sein und gut. Daher sollten wir das verwerfliche Verhalten einer nahestehenden Person eigentlich verurteilen. Doch Ginos Studie zeigt: Genau jene Bindungen können offenbar dazu führen, dass wir Vergehen unserer Freunde oder Verwandten rechtfertigen – und uns sogar selbst daneben benehmen.
Offenbar hat moralisches Verhalten auch eine soziale Komponente. Ob wir uns selbst ethisch korrekt benehmen oder auf die schiefe Bahn geraten, hängt auch davon ab, wie sich jene Personen verhalten, die uns nahe stehen. Oder, wie es der englische Schriftsteller John Donne einst formulierte: „Niemand ist eine Insel.“
Literatur:
Francesca Gino und Adam Galinsky (2012). Vicarious dishonesty: When Psychological Closeness Creates Distance from One’s Moral Compass. Organizational Behavior and Human Decision Processes.
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