Es klingt zunächst etwas bizarr: Einer neuen Studie zufolge fördert eine unordentliche Umgebung die Entstehung von Vorurteilen – das Schubladendenken übernimmt jedoch durchaus eine sinnvolle Funktion.
Auf den ersten Blick wirkt ein Bahnhof nicht wie ein optimaler Ort für ein wissenschaftliches Experiment. Es sei denn, man ist so einfallsreich wie Diederik Stapel und Siegwart Lindenberg. Die beiden Sozialpsychologen von der Tilburg Universität nutzten einen wochenlangen Streik der Reinigungskräfte an niederländischen Bahnhöfen im Februar 2010 für eine interessante Feldstudie.
Wie man sich vorstellen kann, sahen die Bahnhöfe wegen des Streiks alles andere als schön aus. Überall lag der übliche Müll der Reisenden herum. Dies hatte jedoch nicht nur Einfluss auf den Wohlfühlfaktor. Stapel und Lindenberg fanden heraus: Die Unordnung veränderte auch das Verhalten und die Einstellungen.
Im ersten Teil ihrer Studie baten sie 40 zufällig ausgewählte Personen, einen Fragebogen über Homosexuelle und Muslime auszufüllen – inmitten der dreckigen Gleise. Verblüffend: In dieser Umgebung waren die Vorteile stark ausgeprägt. Muslime wurden oft als „aggressiv“ eingeschätzt, Schwule als „feminin“.
Natürlich kann man in so einem Fragebogen immer lügen. Deshalb hatten Stapel und Lindenberg noch ein subtiles Element in die Befragung eingebaut. Während die Freiwilligen den Bogen ausfüllten, offerierten die Wissenschaftler ihnen, doch bitte Platz zu nehmen; und zwar auf einem der sechs Stühle, die sie aufgestellt hatten. Alle waren frei – bis auf einen. Dort saß mal ein weißer, mal ein schwarzer Komplize der Forscher.
Man mag es kaum glauben, aber in der dreckigen Umgebung wählten sie im Schnitt einen Stuhl, der drei Plätze von der dunkelhäutigen Person entfernt war – zur weißen Person hielten sie nur zwei Plätze Abstand. Als die Wissenschaftler eine Woche später wiederkamen und das Experiment wiederholten – der Bahnhof war inzwischen gereinigt worden -, hielten sie plötzlich auch zur schwarzen Person lediglich zwei Plätze Distanz. Die Vorurteile waren buchstäblich weggeräumt.
In vier weiteren Experimenten machten die Psychologen dieselbe Beobachtung: Unordnung verstärkte die Vorurteile und wirkte sich negativ auf das Verhalten aus. In einer chaotischen Umgebung sank die Spendenbereitschaft, während die Vorurteile zunahmen. Wie kommt das?
Nach Angaben von Stapel und Lindenberg entstehen die Vorurteile in diesen Fällen weniger aus moralischer Verkommenheit. Vielmehr haben sie so etwas wie eine ordnende Funktion. Wer von Chaos und Durcheinander umgeben ist, versucht demnach, zumindest geistig wieder Struktur und Ordnung herzustellen. Und hier kommen die Vorurteile ins Spiel, die Menschen in einfache (und oft falsche) Kategorien stecken. Schubladendenken sei so etwas wie ein „mentales Reinigungsmittel“, meinen die Wissenschaftler.
Nicht selten hat das jedoch negative Konsequenzen, eben weil es auch die dunklen und fiesen Eigenarten ans Tageslicht bringt. Dass Menschen in einer unordentlichen Umgebung gerne mal die sprichwörtliche Sau rauslassen, ist bereit seit den Siebzigerjahren bekannt. Damals konnte der inzwischen legendäre US-Psychologe Philip Zimbardo zeigen, dass ein Auto von Passanten eher demoliert wird, wenn man vorher das Kennzeichen abmontiert und die Motorhaube leicht angehebt – als Signal dafür, dass das Fahrzeug niemanden mehr interessiert.
Der Kriminologe George Kelling und der Politikwissenschafter James Wilson nannten das Phänomen in einem Artikel später „Broken-Windows-Theorie“. Sie waren sich sicher, dass vermeintlich harmlose äußere Schäden – wie etwa ein zerbrochenes Fenster – die Menschen dazu anstiften, sich daneben zu benehmen. Insbesondere dann, wenn sie sich anonym fühlen.
Sehr schön beobachten lässt sich das übrigens auch heute noch. Gehen Sie mal an einem Samstagnachmittag in eine Filiale der Modekette „H & M“. Überall werden T-Shirts, Pullis und Hosen kreuz und quer über- und durcheinander liegen. Hand aufs Herz: Legen Sie dort alles, was Sie anprobieren, fein säuberlich wieder auf seinen Platz zurück?
Update vom 3. November 2011: Inzwischen hat Diederik Stapel zugegeben, Dutzende von Studien gefälscht zu haben. Ob auch diese Studie dazugehört, ist noch unklar. Mehr erfahren Sie bei Spiegel Online, der New York Times, oder den Blogger-Kollegen von io9.
[via Not Exactly Rocket Science]
RT @effektivdenken: Warum Unordnung Vorurteile fördert https://www.alltagsforschung.de/broken-windows-effekt-unordnung-fordert-vorurteile/
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Sehr interessantes Experiment: Broken-Windows-Effekt – Unordnung fördert Vorurteile http://bit.ly/emnrov
RT @danielrettig: Der Broken-Windows-Effekt – Unordnung fördert Vorurteile http://bit.ly/h5jdIc #psychologie
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