Der Fall des Francesco Schettino – Warum versagen wir?

Der tragische Unfall der „Costa Concordia“ ist vermutlich auf den Kapitän zurückzuführen, der zu allem Überfluss die Passagiere im Stich ließ – Versagen auf ganzer Linie. Wahr ist auch: Jeder versagt manchmal. Die Frage ist nur: Warum?

Noch immer sind die genauen Umstände des Schiffsunglücks vor der italienischen Insel Giglio unklar. Doch schon jetzt deutet sich an, dass der Kapitän der „Costa Concordia“ sich während des Untergangs, untertrieben formuliert, nicht unbedingt vorbildlich verhalten hat. Medienberichten zufolge saß Francesco Schettino bereits in einem Rettungsboot, während Tausende von Passagieren noch um ihr Leben kämpften – der denkbar größte Fehler, den ein Kapitän machen kann. „Capitano dilettante“, witzelt „Spiegel Online“, für „Bild“ ist Schettino der „Lügen-Kapitän“.

„Er hat nicht nur eine Menge idiotischer Entscheidungen getroffen“, sagt der Buchautor und Schiffsexperte John Maxtone-Graham in einem Interview, „dass er das Schiff auch noch viel früher verlassen hat als viele Passagiere und Crew-Mitglieder, ist wirklich unfassbar.“

Einerseits stimmt das natürlich. Jeder Kapitän hat nicht nur die Verantwortung für sein Schiff, sondern auch für Besatzung und Passagiere. Das prominenteste Beispiel ist Edward John Smith, Kapitän der „Titanic“. Er blieb bis zum bitteren Ende an Bord, seine Leiche wurde nie gefunden. Andererseits ist Schettinos Verhalten nicht völlig unerklärlich – und zwar aus zwei Gründen.

Zum einen ist der Überlebensinstinkt einer unserer stärksten Antreiber. Wenn wir unser Leben bedroht sehen, rüsten wir uns zum Kampf oder ergreifen automatisch die Flucht – so wie Schettino. Zum anderen aber – und das soll das Verhalten des Kapitäns in keinster Weise rechtfertigen -, steckt in jedem von uns ein kleiner Schettino.

Tatsache ist: Beinahe jeder versagt früher oder später einmal – auch wenn die Konsequenzen meist harmloser sind als bei Schiffskapitänen. Schüler leiden unter Prüfungsangst, Studenten fallen durch die Aufnahmeprüfung, Fußballer schießen im entscheidenden Moment neben das Tor, ein Musiker vergisst die Noten, ein Redner seinen Text. So unterschiedlich die Situationen und Folgen auch sein mögen, eines haben sie gemeinsam: Im entscheidenden Moment war der Druck zu hoch.

Klar, ein bisschen Lampenfieber schadet nie. Doch wenn dieses Gefühl überhand nimmt, wirkt sich das negativ auf die Leistung aus. US-Psychologen bezeichnen das als „choking under pressure“. Choking heißt wörtlich übersetzt eigentlich „würgen“, bedeutet hier aber soviel wie „unter dem Druck zusammenbrechen“. Wohlgemerkt: Es geht nicht um eine schlechte Leistung, sondern um Totalversagen. Aber warum passiert uns das überhaupt? Und wie können wir solche Blackouts vermeiden?

Zwei Erklärungen

Eine der führenden Expertinnen der Versagensforschung ist Sian Beilock, Professorin an der Universität von Chicago und Autorin des Buchs „Choke“. Sie und andere Wissenschaftler führen menschliches Versagen auf zwei Theorien zurück. Die Vertreter der „Distraction Theory“ gehen davon aus, dass wir uns in einer extremen Drucksituation auf die falschen Dinge konzentrieren. Wir denken eher an die Situation und ihre Konsequenzen, anstatt uns auf unsere Aufgaben zu fokussieren. Kurzum: Wir werden unaufmerksam. Studien zufolge gilt das aber vor allem bei hohen intellektuellen Herausforderungen, weniger bei Routineaufgaben.

Die Anhänger der skill-focus theory“ sind anderer Ansicht. Sie meinen: Der Druck führt dazu, dass wir uns zu sehr auf die notwendigen Schritte konzentrieren. Wir wollen es unbedingt richtig machen und verkrampfen. „Paralyse durch Analyse“, sagt Sian Beilock dazu. Dies gilt ihr zufolge vor allem bei anspruchsvollen, aber automatisierten Tätigkeiten. Die Folge: Etwas, das wir eigentlich im Schlaf beherrschen, fällt uns plötzlich schwer.

Und das führt uns wieder zum Schiffskapitän Francesco Schettino. Auch er wusste genau, wie er sich während des Unglücks zu verhalten hatte – und machte doch alles falsch. Teilweise aus Überlebensinstinkt, teilweise weil er mit dem Druck nicht klar kam. Doch es gibt noch eine dritte Erklärung.

Im vergangenen Jahr fand Sian Beilock mit ihrer Doktorandin Marci DeCaro in einer Studie heraus, dass die Umgebung eine entscheidende Rolle dabei spielt, ob jemand zum Helden oder zum Versager wird – zumindest bei vermeintlichen Routineaufgaben. Das Totalversagen wird demnach umso wahrscheinlicher, je mehr Menschen währenddessen anwesend sind und die Leistung mitbekommen. Und das war bei Schettino und den etwa 4000 Passagieren definitiv der Fall.

Wie man das Versagen vermeidet? Die Antwort ist ziemlich trivial: üben, üben, üben. „Die beste Methode für mehr Stressresistenz und gegen Totalversagen ist es, genau solche Situationen immer und immer wieder zu proben“, sagt Beilock. Das machten Profi-Sportler im Training genauso – um für den ernsten Wettkampf, das entscheidende Spiel oder Duell gerüstet zu sein.

Für die Passagiere der „Costa Concordia“ kommt diese Erkenntnis leider zu spät.

Quelle:
Marci S. DeCaro, Robin D. Thomas, Neil B. Albert, Sian L. Beilock (2011). Choking under pressure: multiple routes to skill failure. In: Journal of Experimental Psychology: General. Ausgabe 140, Nummer 3, Seite 390–406.

11 Kommentare

  1. Hallo Daniel Rettig !

    Dein Artikel bzgl. der „Costa Concordia“ hat mit sehr gut gefallen.

    Ich habe vor einigen Jahren ein Lied mit dem Titel „Jeder Kapitän“ geschrieben.

    Vielleicht gefällt es dir – und nicht nur in diesem Zusammenhang.

    Du findest dieses Lied: dooload.de/pr-music

    Wichtiger persönlicher Hinweis: ich habe keine komerziellen Interessen. Meine Lieder sind frei verfügbar.

    LG vom Niederrhein

    P.R.

  2. @Aki: Das bestreite ich auch gar nicht – mir ging es ja eher darum, auf die allgemeine Gefahr solcher Versagensmomente hinzuweisen.

    @Roland: Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Schettino wirklich eine Metapher für Dilletantentum ist – und ob das wirklich im Trend liegt. Und ob das wirklich Wulffs Problem ist und war? Warte mal die nächste WiWo ab – morgen kann ich mehr verraten…

  3. Der hier entscheidende Punkt ist doch, dass Schettino den katastrophalen Fehler schon VOR seiner Flucht (vor der Verantwortung) gemacht hat. Überlebensinstinkt, Druck und die Menschen um ihn herum, diese Aspekte mögen eine Rolle spielen. Aber Schettino muß auch gewußt haben, dass er so oder so einen (auch persönlichen) Supergau ausgelöst hat und er dieser Tatsache (auch seiner Persönlichkeit) nicht entkommen kann.

  4. Ja, das kann man so sehen: Zuviel Druck, zuviel Stress, einfach das Falsche gemacht. Ich habe noch eine andere Hypothese.

    Es ist einfach eine Ära der Dilettanten.
    Egal ob das Krisenmanagement des Freiherrn von Guttenberg oder jüngst unseres Bundespräsidenten. Ich sehe da nicht übermäßig viel Druck, sondern einfach grandiose Selbstüberschätzung.

    Anderes Beispiel: wenn man bei DSDS schaut, wieviele Krächzer Mühe haben, das Urteil der Jury „Du kannst nicht singen!“ zu akzeptieren und felsenfest behaupten, sie hätten aber die schönste Stimme und die Juroren hätten keine Ahnung.

    Griechische Politiker, italienische Staatspräsidenten, überforderte Fondsmanager, B-Promis im Dschungelcamp – die Reihe lässt sich beliebig fortsetzen. Es ist einfach purer Dilettantismus. Das gab es immer. Schlimm ist nur, dass er mittlerweile durch die Medien und das Internet so weit verbreitet ist und auch noch entsprechende Aufmerksamkeit bekommt.

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