Auch wenn wir Freundschaften aufgrund gegenseitiger Sympathien oder Interessen pflegen, entstehen enge Bindungen meist aus Zufall. „Propinquity-Effekt“ heißt das im Fachjargon.
„Anders als die meisten Menschen glaube ich nicht, dass Freunde die Menschen sind, die wir am meisten mögen“, sagte Peter Ustinov einst zynisch, „sie waren bloß zuerst da.“ Hinter dem feinen britischen Humor der Schauspiellegende steckt ein psychologisch erwiesenes Prinzip: Selbst wenn wir Freundschaften aufgrund gegenseitiger Sympathie, gemeinsamer Werte oder Interessen pflegen – zustande gekommen sind sie oft aus Zufall. Der Name dieses Phänomens: Propinquity-Effekt. Oder auf Deutsch: Nähe-Effekt.
Er geht zurück auf eine Studie aus den Fünfzigerjahren. Damals untersuchten die berühmten Sozialpsychologen Leon Festinger, Stanley Schachter und Kurt Back die Freundschaften in 17 Studentenwohnheimen. Ihr Fazit: Je näher die Appartements zueinander lagen, desto engere Freunde wurden die Bewohner. 65 Prozent dieser Freunde lebten im selben Heim. Mehr noch: Wer Tür an Tür wohnte, war in fast der Hälfte der Fälle befreundet.
Nun könnte man einwenden, dass das völlig logisch ist. Wer neben einem wohnt, den sieht man auch öfter. Entsprechend steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man miteinander ins Gespräch kommt, währenddessen Gemeinsamkeiten entdeckt und sich anfreundet. Und überhaupt, die Untersuchung stammt aus dem Jahr 1950, damals gab es weder Handys noch Internet! Alles richtig. Aber der Effekt wirkt auch heute noch, wie eine Studie aus dem Jahr 2008 beweist.
Drei Psychologen der Uni Leipzig wollten herausfinden, wie Erstsemester Freundschaften schließen. Die Forscher um Mitja Back (der inzwischen an der Uni Mainz lehrt) untersuchten 54 Psychologiestudenten an zwei verschiedenen Zeitpunkten – zu Beginn des Studiums und ein Jahr später. Zuerst bekamen die Studenten bei einer Einführungsveranstaltung Sitzplätze nach dem Zufallsprinzip zugewiesen. Danach traten die Teilnehmer einzeln nach vorne und stellten sich ihren zukünftigen Kommilitonen vor. Sofort im Anschluss sollten die Zuhörer beurteilen, wie sympathisch ihnen der Vorgestellte war und ob sie diese Person gerne näher kennenlernen würden. Dann rückten die Studenten jeweils einen Platz weiter.
Zwölf Monate später befragten die Forscher die Studenten erneut. Ergebnis: Die zufällige Sitzposition zum Zeitpunkt des ersten Kennenlernens beeinflusste die Entwicklung der Freundschaften. Wer bei der ersten Begegnung nebeneinander oder auch nur in einer Reihe gesessen hatte, war nach einem Jahr mit signifikant höherer Wahrscheinlichkeit miteinander befreundet.
Wem wir uns anvertrauen und an wessen Schulter wir uns vielleicht eines Tages einmal ausheulen, ist womöglich weniger bewusste Selektion – sondern mehr Zufall.
Der Artikel ist ein Auszug aus dem Buch „Ich denke, also spinn ich“, das ich gemeinsam mit meinem Freund und Kollegen Jochen Mai geschrieben habe.
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