Geld verdirbt den Charakter, behauptet der Volksmund. Eine neue Studie bestätigt dieses Klischee: Demnach zeigen Angehörige der Unterschicht mehr Mitgefühl anderen Menschen gegenüber.
Was bedeutet das eigentlich – arm zu sein? Für die Weltbank gehört erst dann jemand zu den Armen, wenn er weniger als 1,25 US-Dollar täglich Tag zur Verfügung hat. In Deutschland hingegen beginnt Armut bereits bei weitaus höheren Summen. Das Statistische Bundesamt orientiert sich dabei am so genannten Median.
Vereinfacht gesagt: Man stelle alle 82 Millionen Deutschen nebeneinander – Männer, Frauen, Kinder, Senioren. Ganz links stehen die, die am wenigsten verdienen, ganz rechts stehen die Großverdiener. Die Person, die genau in der Mitte steht, bekommt das sogenannte mittlere Einkommen, das Statistiker auch als Median bezeichnen.
Der Median lag in Deutschland im Jahr 2010 bei 18.800 Euro. Jeder, der weniger als 60 Prozent jährlich verdient – also unter 11.280 Euro -, gilt in der Statistik als arm. Genauer gesagt: Er gilt als armutsgefährdet. Wer mindestens das Doppelte verdient – mehr als 37.600 Euro -, gilt bereits als reich. Obwohl sich die meisten Menschen unter einem Reichen sicher etwas anderes vorstellen.
Sie sehen schon: Eine Definition von Armut ist kompliziert. Aber allen Armen ist gemein, dass es ihnen an etwas mangelt – Nahrung zum Beispiel, vielleicht ein Dach über dem Kopf, Kleidung, und nicht zuletzt: Geld. Und dieser Mangel wirkt sich auch auf ihr Leben aus.
Wer einer niedrigeren sozialen Schicht angehört, hat es oft schwerer im Leben. Er wohnt nicht selten in einer unsicheren Gegend, da dort die Mieten niedriger sind, und die Bildungschancen sind auch schlechter. Man stelle sich das mal vor: Bei gleicher Intelligenz hat ein Akademikerkind in Deutschland eine fünf Mal höhere Chance, ein Gymnasium zu besuchen, als ein Arbeiterkind. Was macht das mit einem Menschen?
Auswirkungen auf die Psyche
Diese Frage stellen sich Psychologen bereits seit einigen Jahren – und sie haben dabei auch einige Antworten gefunden. Deren Fazit: Armut wirkt sich auf die Psyche der Betroffenen aus. Angehörige der Unterschicht reagieren körperlich sensibler auf äußere Bedrohungen, sie zeigen mehr Feindseligkeit und Wut, empfinden häufiger negative Gefühle wie Angst und Hoffnungslosigkeit. Kurzum: Sie sind sensibler gegenüber äußeren Einflüssen – insbesondere jenen, die eine Bedrohung darstellen könnten.
Doch offenbar sorgt genau diese Reaktion auch für eine durchaus angenehme Eigenschaft – nämlich mehr Mitgefühl. So lautet zumindest das Fazit einer neuen Studie von Jennifer Stellar, Psychologin der Universität von Kalifornien in Berkeley.
Im ersten Experiment sollten 148 Studenten zunächst angeben, welcher sozialen Klasse sie sich zugehörig fühlten – also beispielsweise der Unterschicht, der Mittelschicht oder der Oberschicht. Dann sollten sie in einem Fragebogen ankreuzen, wie oft sie Emotionen wie Freude oder Liebe erlebten, wie häufig sie Menschen in Not bemerkten und wie wichtig es ihnen war, denen zu helfen. Sprich: wie viel Mitgefühl sie zeigten. Und siehe da: Jene Probanden aus den unteren Schichten zeigten am meisten Empathie.
Im zweiten Versuch schauten 65 Probanden zwei kurze Videos. In einem davon erklärte eine Frau, wie man am besten eigenhändig eine Mauer baut, im anderen sahen sie Porträts krebskranker Kind bei der Chemotherapie. Mit anderen Worten: Das eine Video war neutral, das andere sollte Gefühle auslösen. Und das tat es auch – allerdings nicht bei allen Teilnehmern. Wieder zeigten jene Probanden aus der Unterschicht am meisten Mitgefühl. Mehr noch: Sie reagierten sogar physisch auf die kranken Kinder.
Niedriger Puls
Stellar maß nämlich die Herzschläge aller Freiwilligen. Ergebnis: Bei jenen aus der Unterschicht verlangsamte sich der Puls ganz erheblich – eine körperliche Reaktion, wenn andere unsere Hilfe brauchen. Der langsamere Herzschlag hilft dabei, uns auf andere einzulassen, ihnen zuzuhören und sie womöglich zu trösten.
Im letzten Experiment nahmen 106 Studenten in Zweierpaaren an einem fiktiven Jobinterview teil. Hinterher befragten sie die Teilnehmer nach ihren Gefühlen – und nach denen ihres Spielpartners. Und dabei zeigte sich: Zwar hatten alle das Bewerbungsgespräch als ähnlich stressig empfunden. Doch nur die Teilnehmer aus der Unterschicht konnten sich auch in die Gefühlswelt ihrer Spielpartner hineinversetzen und deren Emotionen nachvollziehen.
Mitgefühl anderen Menschen gegenüber ist eine der wichtigsten Zutaten für ein friedliches Miteinander. „Doch die Fähigkeit zur Empathie ist nicht in allen sozialen Schichten gleichermaßen vorhanden“, schreibt Stellar, „in der Unterschicht ist sie stärker ausgeprägt.“
Quelle:
Jennifer E. Stellar, Vida M. Manzo, Michael W. Kraus, Dacher Keltner. Class and Compassion: Socioeconomic Factors Predict Responses to Suffering. In: Emotion, 2011.
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