Vor einigen Tagen hat der deutsche Verlag Droemer Knaur ein neues Buch herausgebracht: „Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“. Eine Rezension.
Jedes Jahr kommen in Deutschland etwa 100.000 Bücher auf den Markt, von den meisten bekommt niemand etwas mit. Um aus dieser Masse hervorzustechen, braucht man immer eine ordentliche Portion Glück. Viele Fans können auch nicht schaden. Doch das reicht noch nicht.
Vor allem als Sachbuchautor ist es hilfreich, mit seinem Thema entweder einen gesellschaftlichen Nerv zu treffen oder eine steile These zu präsentieren. Am besten natürlich beides, siehe Thilo Sarrazin. Insofern hat Manfred Spitzer mit seinem neuen Buch Digitale Demenz alles richtig gemacht – doch viel mehr Positives lässt sich über das Buch leider nicht sagen.
Spitzer ist hauptberuflich Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm und Chef des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen. Nebenberuflich schreibt er seit einigen Jahren Bücher. Um das deutlich zu sagen: Ich habe nichts dagegen, wenn Wissenschaftler Bücher schreiben, ganz im Gegenteil. Solche Bücher können theoretisch enorm bereichernd sein. Praktisch sieht das bisweilen anders aus.
„Kaum jemand kann wissenschaftliche Erkenntnisse derart unterhaltsam und anschaulich präsentieren“, heißt es im Klappentext über Spitzer. Wenn „unterhaltsam“ und „anschaulich“ gleichbedeutend ist mit „haarsträubend“ und „abenteuerlich“, dann stimme ich dem Satz zu.
Spitzer beschäftigt sich in seinem Buch mit den Folgen des digitalen Medienkonsums auf das menschliche Gehirn. Denn er sieht Grund zur Sorge:
„Während der Konsum von Alkohol, Nikotin sowie weichen und harten illegalen Rauschdrogen rückläufig ist, steigen Computer- und Internetsucht dramatisch an.“
Ein klassischer Spitzer – denn solche Überhöhungen und Übertreibungen durchziehen sein ganzes Buch. Man muss sich den Satz genau durchlesen, um die Perfidie zu bemerken. Denn Spitzer stellt hier Alkoholiker, Heroinsüchtige und Kokainkonsumenten auf eine Studie mit Internetsüchtigen.
Nun will ich das Thema Internetsucht nicht verharmlosen. Aber in meinem Weltbild ist der Konsum von Heroin und Kokain immer noch weitaus besorgniserregender. Mal davon abgesehen, dass ich es erstmal erfreulich finde, wenn der Konsum weicher und harter Drogen zurückgeht.
Aber weiter im Text. Spitzer ist sich offenbar bewusst, dass sein Buch nicht nur für Begeisterung sorgen wird. Und so schreibt er:
»Digitale Demenz – so ein Unfug!«, höre ich meine Kritiker schon laut rufen. Dabei bräuchten sie nur selbst ins weltumspannende digitale Datennetz zu gehen, um sich vom Gegenteil zu überzeugen. Googelt man die Stichwörter »digitale Demenz« bzw. »digital dementia«, dann erhält man in etwas weniger als einer Fünftelsekunde etwa 8.000 und auf Englisch 38.000 Einträge.“
Nun könnte man bei Google auch die Stichwörter „Fallschirmspringen ohne Schirm“ eingeben. Dann erhält man in weniger als einer Fünftelsekunde 157.000 Ergebnisse. Das macht Fallschirmspringen ohne Fallschirm allerdings nicht zwingend sinnvoller.
Will sagen: Die Tatsache, dass Google für bestimmte Begriffe viele Ergebnisse liefert, ist noch lange kein Indiz für dessen Sinnhaftigkeit. „Schwimmen ohne nass werden“ liefert übrigens 1,3 Millionen Ergebnisse, „Mit geschlossen Augen lesen“ 6,9 Millionen.
Apropos Google. Die Macht der neuen Medienkonzerne wie eben Google, Apple oder Facebook hat Spitzer offenbar nachhaltig beeindruckt. Oder sagen wir besser: verstört.
„Es gibt viele Leute, die mit den digitalen Produkten sehr viel Geld verdienen und denen das Schicksal der Menschen, insbesondere von Kindern, egal ist. Man kann zum Vergleich durchaus die Waffenproduzenten und -händler anführen, deren Geschäft bekanntermaßen der Tod anderer Menschen ist. Auch die Tabakbranche – die nachweislich tödliche Produkte herstellt und verkauft – manche Lebensmittelhersteller (…) oder die Werbebranche sind hier zu nennen. Und eben auch die Großkonzerne, die den Markt der digitalen Medien herrschen.“
Hossa. Nun spricht erstmal nichts dagegen, die Geschäfte von Google, Apple und Co. kritisch zu sehen – aber sie auf eine Studie mit Waffenhändlern und Tabakherstellern zu stellen, finde ich doch ein wenig übertrieben.
Gegen eine gut geschriebene und argumentierte Polemik ist ebenfalls nichts einzuwenden. Aber bei Spitzers Buch hatte ich den Eindruck, dass der rhetorische Gaul mit ihm durchgegangen ist.
Das Buch wimmelt vor Gemeinplätzen und Pauschalisierungen. Digitale Medien sind für den Autor „Lernverhinderungsmaschinen“, Navigationsgeräte machen das Gehirn mürbe, Computer führen zwangsläufig zu schlechteren Noten und miesem Sozialverhalten. Ach was, nicht nur Computer:
„Das Internet ist voller scheiternder Sozialkontakte, die vom Vorgeben, dass man ein anderer sei, über Schummeln, Betrügen bis hin zur groben Kriminalität reichen. Es wird gelogen, gemobbt, abgezockt, aggressiv Stimmung gemacht, gehetzt und diffamiert, dass sich die Balken biegen!“
Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, waren die vergangenen Jahrhunderten an Grausamkeiten nicht gerade arm. Lügner, Betrüger und Sadisten gab es immer schon. Was ich damit sagen will: Spitzer verwechselt – ob bewusst oder unbewusst – den Unterschied zwischen Kausalität und Korrelation. Soll heißen: Das Internet macht den Menschen nicht schlecht. Schlechte Menschen haben einfach ein neues Forum, um ihre Abgründe auszuleben.
„Die Dosis macht das Gift“, sagte der Schweizer Arzt Paracelsus einmal. Dieser Satz gilt meiner Ansicht nach für so ziemlich jedes menschliche Bedürfnis und Vergnügen – auch für digitalen Medienkonsum. Manfred Spitzer ist da etwas anderer Meinung:
„Meiden Sie die digitalen Medien. Sie machen, wie vielfach hier gezeigt wurde, tatsächlich dick, dumm, aggressiv, einsam, krank und unglücklich.“
Stattdessen empfiehlt Spitzer gesunde Ernährung (Heidelbeeren, Brokkoli, möglichst kleine Fische), täglich mindestens eine halbe Stunde Bewegung, Musikhören, Singen und Lächeln. Und er rät: „Lassen Sie sich durch Medienmarktschreier nicht den Verstand rauben.“
Damit ist eigentlich alles gesagt.
Natürlich gibt es auch hierfür Forschungen. viele passen aber nicht ins Weltbild von Herrn Spitzer.
http://www.welt.de/wissenschaft/article13716442/Das-Maerchen-von-den-verbloedeten-Computer-Spielern.html
http://gibro.de/studiengegenspitzer
Die Diskussion über die Verblödung unserer Kinder an den Fähigkeiten der Vorväter fest machen zu wollen, erinnert mich immer an meinen Onkel der meint: „Die Kinder heute wissen nicht einmal mehr, welches die drei größten Flüsse Deutschlands sind.“ Wen interessiert das, die Frage ist nicht unbedingt was man weiß, sondern ob man weiß wo man sich die Informationen herholen kann. Und mein Sohn lernt ein Theaterstückstück trotz seines manchmal beunrihegenden Medienkonsums immernoch an einem Nachmittag, wenn in der Schule eine Aufführung ansteht. Natürlich müssen Eltern einen Blick auf den Computergebrauch der Kinder haben. Aber sinnlose Panikmache, wie herr Spitzer sie bei ohnehin schon wegen jedem Unfug besorgten Eltern betreibt ist fahrlässig und Kontraproduktiv, denn er gibt den Eltern rein gar nichts an die Hand, wie sie gedeihlich mit ihren Kindern mit diesen Themen umgehen und die Kinder gehen dann lieber zu Freunden um da vollkommen unkontrolliert zu zocken.
Letztendlicher ist er ein Schmarotzer bei den orientierungslosen Eltern. Er nutzt ihre Verunsicherung aus, um damit viel Geld zu verdienen. Dafür gibt er ihnen nicht wirklich etwas an die Hand um damit eine Gedeihliche Basis mit den Kindern zu schaffen. wirtschaftlich ist es für ihn viel effektiver Ängster zu schüren: Verunsicherte Eltern werden auch noch sein nächstes Sarrazinoeskes Werk kaufen. Eltern die in sich ruhen werden sich fragen wofür sie ihr Geld rausschmeissen sollen und die Zeit die sie sonst mit dem Lesen und sorgen machen verschwendet hätte lieber mit ihren Kindern verbringen.
… anders als „polemisch“ kann man wohl heute niemanden mehr erreichen.
Das wird Spitzer in den Talkshows erfahren haben. Aber wie bei jeder Sucht: man muss erst durch ein ganz tiefes Tal gehen, bevor man sich helfen lässt oder sich selbst helfen kann. Das sollte auch der Rezensent mal zur Kenntnis nehmen. Ich beobachte seit längerem eine abnehmende Konzentrationsfähigkeit im Kollegenkreis, die genau das reflektiert, was Spitzer beschreibt.
Im Grunde genommen zeigt sich auch hier, was seit Jahrzehnten erforscht ist und worum es in diesem Buch auch geht: Abstumpfung der sehr menschlichen Fähigkeit der Einfühlung in einen Mitmenschen …
Als PC-Nutzer der ersten Stunde – mittlerweile also seit 30 Jahren – kann ich Herrn Spitzers Thesen leider nur zustimmen. Inwiefern sie ausreichend wissenschaftlich abgesichert sind, ist eine andere Frage, macht die Thesen aber nicht weniger bedenkenswert. Polemik? Das gilt für die Rezension zumindest in gleichem Maße. Was ich sonst noch schreiben wollte – hab ich vergessen. Was bleibt, ist ein Lächeln … und Zwergsardinen an Heidelbeer-Brokkoli 😉
Ich habe Herrn Spitzers Buch „Vorsicht, Bildschirm“ gelesen und fand es ganz ordentlich. An manchen Stellen übertrieben, doch von vielen Fakten und Zahlen durchsetzt. Insgesamt positiv. Anscheinend sind ihm bei der „Digitalen Demenz“ etwas die Pferde durchgegangen.
Was ich persönlich allerdings trotzdem gern erforscht wüsste: die neurobiologischen Veränderungen des Gehirns durch die Nutzung des Computers und des Internet – wenn es solche gibt. Doch da steckt die Forschung noch in den Kinderschuhen und wird eben – im Fall des vorloegenden Buches – eher durch Polemik ersetzt. Letztendlich tut Herr Spitzer sich und der Sache damit keinen Gefallen.
@Roland: Ja, in der Tat sehr seltsam. Die Serie kenne ich und finde sie auch sehr sehenswert – aber was genau ihn zu diesem Buch verleitet hat, vermag ich nicht zu sagen.
Seltsam.
Ich kenne Herrn Spitzer als jemanden, der tatsächlich wissenschaftliche Infommationen verständlich und unterhaltsam verpacken kann. So wie in der Serie „Geist und Gehirn“ vom Bayerischen Fernsehen http://www.youtube.com/watch?v=V5GylEupA44&
Bei dem Besuch hat ihn wohl ein Computer-Virus befallen und die halbe Festplatte durcheinander gebracht. Oder es war ein Marketing-Einfall des Verlags, dem er blind gefolgt ist. Schade!