Noch ist unklar, ob Überwachungskameras tatsächlich Straftaten verhindern. Doch laut einer neuen Studie haben sie zumindest einen netten Nebeneffekt: Sie erhöhen die Hilfsbereitschaft – und verhindern den berühmten Bystander-Effekt.
Die einen halten sie für einen Angriff auf die Privatsphäre, die anderen loben ihre Rolle im Kampf gegen Kriminalität und Verbrechen: Überwachungskameras sorgen regelmäßig für hitzige Diskussionen.
Doch jetzt erhalten die Anhänger der Technologie neues rhetorisches Futter. Einer neuen Studie zufolge könnten Kameras nämlich dazu führen, dass sich die Menschen in der Öffentlichkeit anständiger benehmen und mehr Zivilcourage zeigen.
Aber der Reihe nach.
Die beiden US-Psychologen Bibb Latané und John Darley prägten bereits im Jahr 1968 in einer Studie den Begriff Bystander-Effekt. Der besagt: Bei jedem Notfall nimmt die Wahrscheinlichkeit, dass einem geholfen wird, mit steigender Anzahl der Anwesenden ab.
Seitdem ist der Effekt in Dutzenden von Studien bestätigt worden. Egal ob es um ein Verbrechen, einen Unfall oder ein persönliches Missgeschick geht – je mehr Zeugen zugucken, desto geringer ist die Hilfsbereitschaft des Einzelnen.
Die geläufigste Erklärung ist die Verantwortungsdiffusion. Die Anwesenheit anderer Menschen, so das Kalkül, enthebt den Einzelnen seiner Verantwortung. Niemand fühlt sich zuständig.
Schon lange denken Psychologen darüber nach, wie sich der Effekt bekämpfen lässt. Die Polizei empfiehlt zum Beispiel, Hilferufe nicht an die Allgemeinheit zu richten, sondern ganz gezielt eine Person anzusprechen. So könnte die Verantwortungsdiffusion aufgebrochen werden.
Doch womöglich gibt es inzwischen einen weiteren Faktor, der den Effekt stört – Überwachungskameras. So lautet zumindest das Fazit einer neuen Studie des niederländischen Psychologen Marco van Bommel.
Für sein Experiment gewann er 80 Teilnehmer. Sie sollten sich zunächst in einen Vorraum seines Labors setzen und einen Fragebogen ausfüllen. In der Hälfte der Fälle hing an der Decke eine Überwachungskamera, in der anderen Hälfte nicht. Mal saßen noch zwei Komplizen von van Bommel als Versuchsteilnehmer im Raum, mal waren die Probanden alleine.
Während sie die Fragen beantworteten, ging der Versuchsleiter auf Toilette. Plötzlich passierte es: Ein Dieb betrat den Raum und klaute Geld von dessen Tisch. Dann verschwand er.
Wie sich die Teilnehmer verhielten? Das hing auch von der Kamera ab.
Ohne Kamera senkte die Anwesenheit eines Zeugen die Hilfsbereitschaft. Nur 15 Prozent der Freiwilligen wollten den Dieb stoppen, die meisten liefen ihn laufen. Der klassische Bystander-Effekt. Hing jedoch eine Kamera an der Decke, war es genau umgekehrt. Hier halfen immerhin 45 Prozent der Probanden, wenn Zeugen anwesend waren – aber nur 25 Prozent, wenn niemand anderes anwesend war.
Seltsam? Vielleicht. Aber nicht unerklärlich. Van Bommel glaubt: Die Anwesenheit der Kamera könne dazu führen, dass sich die Menschen bewusst werden, wie wichtig eine gute Reputation ist. Und deshalb greifen sie dann eher ein – selbst wenn Zeugen anwesend sind.
Quellen:
Marco van Bommel et al (2013). Intervene to be Seen: The Power of a Camera in Attenuating the Bystander Effect, Social Psychological and Personality Science
John Darley und Bibb Latane (1968). Bystander intervention in emergencies: Diffusion of responsibility. Journal of Personality and Social Psychology, Band 8, Nummer 4, Seite 377-383