Haben Sie ständig das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben für all die schönen Dinge des Lebens? Dann hat eine neue Studie womöglich eine Lösung, die zunächst etwas paradox klingt: Widmen Sie Ihre Zeit anderen Menschen.
Als sein Sohn am 10. Januar 1962 auf die Welt kam, wusste Dick Hoyt sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. „Vergesst ihn und steckt ihn in ein Heim“, sagte der behandelnde Arzt, „Rick wird sein Leben lang nichts weiter sein als Gemüse.“
Der Grund: Bei der Geburt war Ricks Nabelschnur um seinen Hals gewickelt, sein Gehirn wurde deshalb nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Den Ärzten war schnell klar, dass Rick sein Leben lang weder würde sprechen noch gehen können. Doch sein Vater Dick weinte mit seiner Frau nur kurz – und beschloss, Rick nach Hause zu holen.
Seine Eltern ließen ihm einen Computer bauen, der es ihm erlaubte, einigermaßen zu kommunizieren. Und so kam es, dass er im Alter von 15 Jahren von einem Jungen hörte, der seit einem Unfall querschnittsgelähmt war. Zu dessen Ehren sollte ein Wohltätigkeitslauf stattfinden – an dem Rick unbedingt teilnehmen wollte. Also setzte ihn sein Vater in einen Rollstuhl und schob ihn die Strecke von fünf Meilen vor sich her. Und so begann die Geschichte des „Team Hoyt“.
Vater Dick und Sohn Rick haben seitdem an mehr als 1000 Wettkämpfen teilgenommen, darunter nicht nur 66 Marathons, sondern auch 229 Triathlons. Beim Schwimmen sitzt Sohn Rick in einem Schlauchboot, das Vater Dick mittels eines Seils hinter sich herzieht. Beim Fahrradfahren fährt der Vater ein spezielles Tandem, beim abschließenden Joggen schiebt er seinen Sohn in einem Rollstuhl.
Dick Hoyt ist sicher ein extremes Beispiel dafür, wie sich ein Mensch für jemanden aufopfert. Zumal das dem 71-Jährigen seit einigen Jahren leichter fällt, da er pensioniert ist. Und dennoch: Wohl kaum jemand kann von sich behaupten, anderen so viel Zeit zu widmen.
Keine Zeit
Es ist schon seltsam: Die Menschen werden immer älter, elektrische Geräte wie Wasch- oder Spülmaschinen nehmen uns heute viele lästige Aufgaben ab – und trotzdem hätten viele gerne vor allem eines: noch mehr Zeit. Umfragen zufolge hat jeder dritte Deutsche das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben.
Kein Wunder: Wer von morgens bis abends arbeitet, sieht seinen Partner abends höchstens nur noch einige Stunden. Am Wochenende stehen lästige Besorgungen an, die Wohnung will geputzt, der Kühlschrank gefüllt, der Körper gepflegt und Freunde getroffen werden. Bei all dem Alltagsstress stellt sich die Frage: Können wir irgendetwas gegen das Gefühl permanenter Zeitnot unternehmen?
Eine Antwort darauf fanden Psychologen um Cassie Mogilner von der Wharton School of Business in einer neuen Studie. Das Ergebnis klingt zunächst ziemlich paradox: Um subjektiv über mehr Zeit zu verfügen, sollten wir unsere Zeit zunächst mal objektiv investieren – und zwar indem wir Mitmenschen helfen. „Wer seine Zeit für andere opfert, hat den Eindruck, dass er seine Zeit sinnvoll verbringt – und dadurch glaubt er, über mehr Zeit zu verfügen“, sagt Mogilner.
Zu diesem Resümee gelangten die Wissenschaftler in insgesamt vier Experimenten. Im ersten Versuch teilten sie 218 Probanden in zwei Gruppen. Die einen sollten fünf Minuten lang einen aufmunternden Brief an ein schwer krankes Kind schreiben. Die anderen bekamen einen lateinischen Text in die Hand und sollten dort alle „E“ zählen. Hinterher befragte Mogilner beide Gruppen nach ihrem Zeitgefühl. Ergebnis: Die Gruppe der Briefschreiber hatte den Eindruck, über wesentlich mehr Zeit zu verfügen als jene Probanden, die stupide Buchstaben gezählt hatten.
Zugegeben, eine solch dämliche Aufgabe ist mit ziemlicher Sicherheit nervtötend. Deshalb konzipierten die Wissenschaftler das zweite Experiment auch etwas realitätsnäher. 150 Freiwillige bekamen an einem Samstagmorgen eine E-Mail. Die einen wurden dazu aufgefordert, sich noch am selben Tag zehn Minuten lang etwas Gutes zu tun. Die anderen sollten 30 Minuten lang etwas für jemand anderen machen. Und siehe da: Wer seine Zeit für einen Mitmenschen opferte, hatte das Gefühl, über mehr Zeit zu verfügen.
In zwei weiteren Experimenten war das Ergebnis dasselbe: Immer wenn die Probanden jemand anderem etwas Gutes taten, empfanden sie weniger Hektik und Zeitmangel. Mehr noch: Jene Probanden, die einen Versuch früher verlassen durften und somit plötzlich mehr Freizeit hatten, empfanden mehr Zeitmangel als jene, die länger im Labor blieben, um jemandem helfen.
Sinnvolle Tätigkeit
„Egal ob bei Freunden oder Fremden – wenn wir unsere Zeit anderen Menschen widmen, haben wir das Gefühl, mehr Zeit zu haben“, sagt Mogilner. Der psychologische Mechanismus ist ihr zufolge die so genannte Selbstwirksamkeitserwartung. Vereinfacht gesagt: Diese sorgt dafür, dass wir an unsere Fähigkeiten glauben und daran, unser Schicksal selbst in den Händen zu haben. Je mehr wir für andere tun, desto höher auch die Selbstwirksamkeitserwartung – und desto geringer der subjektive Zeitmangel. Weil wir wissen, dass wir die Zeit sinnvoll nutzen.
Wer also wieder mal den Eindruck hat, dass ihm die Zeit davon rennt, sollte einen Moment innehalten – und anderen helfen. Dadurch sichert man sich mindestens die Dankbarkeit seiner Mitmenschen. So wie Dick Hoyt. Sein Sohn Rick erwarb vor einigen Jahren sogar einen Hochschulabschluss und arbeitet heute am Boston College. Auf die Frage, was er für seine Vater am liebsten tun würde, sagte er einmal: „Ihn in den Stuhl setzen und einmal schieben.“
Quelle:
Cassie Mogilner, Zoe Chance und Michael I. Norton (2012). Giving Time Gives You Time. Psychological Science (in press).
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